Flexible ArbeiterInnen produzieren oder kritische BürgerInnen ausbilden?

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Wenn man sich die Entwicklung der Bildungssysteme in Europa und allen so genannten „fortschrittlichen“ kapitalistischen Ländern in den letzten Jahrzehnten ansieht, ist eines der ersten Dinge, die auffallen, die Allgegenwart neuer, mächtiger und internationaler AkteurInnen, die glauben, dass sie die „Erneuerung“ der Schule leiten müssen. Hier finden sich Unternehmerlobbies, wie der mächtige European Round Table of Industrialists (ERT), der bereits Ende der 80er Jahre für eine umfassende Neugestaltung des Bildungswesens in Europa plädierte. Es gibt offizielle Stellen wie die Europäische Kommission, die zwar eine politische Legitimität besitzt, deren dirigistisches Handeln im Bildungsbereich jedoch weit über die Befugnisse hinausgeht, die ihr durch den Vertrag von Maastricht übertragen werden. Auf internationaler Ebene sind die Weltbank und der IWF vor allem bestrebt, die Bildungspolitik der armen Länder auf die Privatisierung und die Kürzung der öffentlichen Ausgaben auszurichten, damit sie… weiterhin ihre Schulden begleichen. Bescheidener, aber allgegenwärtig sind die zahlreichen Untersuchungsbüros wie die McKinsey-Gruppe, die vorgibt, die Regierenden in ihrer Bildungspolitik zu beraten (wie sie Banken und Minister bei der finanziellen Liberalisierung, die dann zum Crash von 2008 führte, so gut berieten). Last but not least gibt es die sehr mächtige OECD, die die ‚Wahrheit‘ durch ihre PISA-Umfragen und das ‚Gesetz‘, durch ihre unzähligen Berichte und Empfehlungen ausspricht, deren Kritik nun einem Sakrileg oder sogar einer Leugnung gleichkommt.

 

Von Nico Hirtt, Aufruf für eine demokratische Schule, Belgien
Übersetzung: Salomé Voirol, KJ Schweiz

Beitrag zum Kolloquium der Partei der Europäischen Linken: „Die demokratische Schule, die beim Denken hilft. Eine andere Einschätzung ist möglich.“ Rom, Universität La Sapienza, 20. Oktober 2018

 

Objektive Ursachen einer globalisierten Bildungspolitik

Die Grundzüge der politischen Massnahmen, die in den letzten zwanzig bis dreissig Jahren umgesetzt wurden, lassen sich in wenigen Schlüsselwörtern zusammenfassen:

  • Privatisierung: Alle potenziell profitablen Bildungs- und Para-Bildungsaktivitäten werden zunehmend von der Privatwirtschaft erobert. Dies reicht von unterrichtsunterstützenden Unternehmen für Schüler in Schwierigkeiten über die kostenpflichtigen Schulungen von Unternehmen wie Microsoft, Apple, Ryanair usw. bis hin zu Privatuniversitäten, die ihre Kurse und Diplome online verkaufen.
  • Kompetenzen: Die Lehrpläne von der Primar- bis zur Tertiärstufe werden immer weniger in Bezug auf integriertem Wissen und zunehmend in Bezug auf „Kompetenzen“ formuliert. Der Schwerpunkt liegt mehr darauf, was der Schüler kann, und nicht darauf, was er weiss oder versteht.
  • Ungleichheit: Die Träume von der Demokratisierung der Bildung, die in den 60er und 70er Jahren blühten, sind praktisch begraben. Während man für die Dauer der Grundausbildung noch eine gewisse „Schulische Gerechtigkeit“ anstrebt, wird aber jede Form des „Egalitarismus“ stigmatisiert.
  • Deregulierung: die zentral vom Staat verwalteten Bildungssysteme mit ihren Armeen von LehrerInnen und BeamtInnen, ihren Regeln für die Öffnung und Schliessung von Klassen, ihren Regeln für die Einstellung von LehrerInnen… diese Systeme werden durch lokale Netzwerke autonomer Einrichtungen ersetzt, in denen sich SchulleiterInnen in ManagerInnen verwandeln, die über eine grosse Entscheidungsbefugnis verfügen.
  • Wettbewerb auf allen Ebenen: zwischen Schulen und Eltern, auf einem zunehmend polarisierenden Schulmarkt; zwischen den SchülerInnen in einem Selektions- und Relegationssystem; zwischen den Ländern und Bildungssystemen, um zu bestimmen, welches die richtigen Ziele zu den geringsten Kosten erreicht.
  • Bewertung: Die SchülerInnen werden unzähligen „wissenschaftlichen“ Testreihen unterzogen. Um ihre „Fähigkeiten“ zu bewerten, aber auch die Unterrichtenden, die einzelnen Schulen und sogar das Bildungssystem als Ganzes zu bewerten (wie in den PISA-, TIMMS- oder PIRLS-Studien).

Diese Trends sind in allen Industrieländern zu finden, und sei es auch in Formen, die manchmal von historischen Besonderheiten geprägt sind. Sie sind also eindeutig nicht das Ergebnis des Willens der einen oder anderen politischen Mehrheit: Parteien der Rechten, der Mitte oder der sozialdemokratischen „Linken“ haben alle zum Aufbau dieser neuen Schule beigetragen. Natürlich kann man darin die Hand der Lobbyisten und der Institutionen des globalen Kapitalismus sehen, die zu Beginn meiner Rede erwähnt wurden. Zweifellos war ihr Handeln wichtig, ja sogar entscheidend. Aber das ist nicht das Wesentliche. Was ich zeigen möchte, ist, dass hinter dieser Neuausrichtung der Bildungspolitik zunächst objektive Bedingungen stehen, die von den Entwicklungen in vier grossen Bereichen diktiert werden, die den Unterricht umgeben (ich zitiere sie in der logischen Reihenfolge, in der sie angesprochen werden):

  • Das Kapital und seine internationale Krise
  • Technologien und ihre rasante Entwicklung in bestimmten Bereichen
  • der Staat und seine Haushaltskrise
  • Arbeit und seine manchmal überraschenden Mutationen

Krise, Technologie und Sparsamkeit

Fangen wir mit dem Kapital an. Unsere Zeit ist von einem enormen Überschuss an Produktionskapazitäten geprägt. Die KapitalistInnen, voller Besitztümer und gierig, sie wachsen zu sehen, haben so sehr in alle Bereiche der Produktion investiert – materiell oder immateriell – dass sie nicht mehr in der Lage sind, alles zu verkaufen, was ihre Maschinen, Werkzeuge, Fabriken, theoretisch produzieren könnten. In den USA lag die Auslastung der Produktionskapazitäten Anfang der 60er Jahre bei 90%. Seitdem hat sie viele Erschütterungen erlebt und erfuhr einen stetigen Abwärtstrend, um heute um die 75% zu schwanken.

Diese Entwicklung hat zwei unmittelbare Auswirkungen auf die kapitalistische Wirtschaft.

Erstens führt der Überschuss an Produktionskapazitäten wiederum zu einem Kapitalüberschuss auf den Finanzmärkten. Es wird in der Tat immer schwieriger, dauerhaft rentable Anlagen zu finden. Die KapitalistInnen wenden sich also neuen Sektoren zu, oder solchen, die bis dahin öffentliche Investitionen betrafen.

Zweitens, wenn die Produktionskapazitäten nicht ausgelastet sind, führt dies zu einer Verschärfung des Wettbewerbs. Dem Dorfbäcker ist es egal, falls er mühelos seine gesamte Produktion verkauft, ob ein Kollege und Freund ein paar Strassen weiter dasselbe tut. Aber wenn beide unvorsichtig sind und in einen neuen, grösseren Ofen investieren und es ihnen dann nicht gelingt, ihn aufgrund mangelnder Nachfrage rentabel zu machen, dann werden sie zu erbitterten Konkurrenten. Das ist die heutige Situation im globalen Dorf des Kapitalismus.

Einer der üblichen Möglichkeiten, um sein überschüssiges Kapital zu investieren oder seine Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, ist der Einsatz technologischer Innovationen, indem man die enormen Fortschritte der Quantenmechanik oder der Genetik mobilisiert. Die neuen Produkte verdrängen jedoch die alten auf den Märkten, wodurch frühere Infrastrukturen überflüssig werden. Und die Gewinne des Produktivitätszuwachses erhöhen die Produktionskapazitäten auf makroökonomischer Ebene. Es ist ein Teufelskreis.

Die Bosse setzen auch den Staat – lokal, regional, national, europäisch – unter Druck, sie zu unterstützen, indem sie alle Steuerlasten abbauen, welche den Investoren missfallen oder deren Gewinnmargen verringern könnten: Steuern auf hohe Einkommen, auf Gewinne, aufs Kapital, auf Kapitalerträge u.s.w. Das Umfeld der Wirtschaftskrise belastet jedoch bereits die öffentlichen Haushalte durch einen Abwärtstrend bei den Personen- und Mehrwertsteuereinnahmen. Sie werden durch höhere Mehrwertsteuersätze, Ausgabenkürzungen für öffentliche Dienstleistungen und Kürzungen der Sozialleistungen ausgeglichen. All dies verringert letztlich die Konsumkapazität und diese wiederum verstärkt den Produktionsüberschuss. Das ist ein zweiter Teufelskreis.

Lasst uns nun die direkten Auswirkungen dieser Entwicklungen auf die Bildungspolitik betrachten.

Erstens weckt der Bildungssektor mit jährlichen Ausgaben in der Höhe von 4 Billionen Dollar natürlich das Interesse privater Investoren. Die bereits erwähnte Tendenz zur Privatisierung von Bildungsaktivitäten ist zum grossen Teil auf den Kapitalüberschuss zurückzuführen.

Zweitens führt die Verschärfung des wirtschaftlichen Wettbewerbs dazu, dass die UnternehmerInnen von der Bildungspolitik fordern, sich auf ein Hauptziel zu konzentrieren: Humankapital bereitstellen, das auf die Bedürfnisse dieses wirtschaftlichen Wettbewerbs zugeschnitten ist.

Drittens: Die Sparpolitik des Staates verschont auch die Bildung nicht. Seit Anfang der 80er Jahre sind die öffentlichen Bildungsausgaben der OECD-Mitgliedstaaten in Prozenten des BIP stabil geblieben. Gleichzeitig hat die Zahl der Studierenden, vor allem im Hochschulbereich, stark zugenommen. Wir erleben also seit Jahrzehnten eine relative Definanzierung. Diese wiederum verstärkt die beiden vorangegangenen Trends. Der Qualitätsverlust eines mittellosen öffentlichen Bildungswesens ruft private Anbieter kostenpflichtiger Bildungsangebote auf den Plan. Und die Verringerung der Mittel unterstützt die Tendenz, die Bildung wieder auf ihre Hauptaufgabe zu konzentrieren, welche ist: Arbeitskräfte (und VerbraucherInnen) zu produzieren, die für den wirtschaftlichen Wettbewerb notwendig sind. Wie der Europäische Rat feststellt:

„Um auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu sein, muss Europa (…) über Unterrichts- und Bildungssysteme verfügen, die den Anforderungen des Arbeitsmarktes und der Lernenden entsprechen. Eine wirksame und angemessene Ausbildung bietet den ArbeitgeberInnen die besten Chancen, qualifizierte Mitarbeiter zu rekrutieren, die den Erfolg ihres Unternehmens gewährleisten können.“ [1]

Jetzt geht es darum zu verstehen, was diese „Arbeitsmarkt-Anforderungen“ sind und von welcher Art von „qualifizierten Menschen“ der „Erfolg der Unternehmen“ abhängt.

Prekarität und Polarisierung der Qualifikationen

Die Entwicklung des Konzepts der „Wissensgesellschaft“ seit Mitte der 90er Jahre könnte darauf hindeuten, dass der Arbeitsmarkt durch eine allgemeine Anhebung des dort geforderten Bildungsniveaus gekennzeichnet sein könnte. Morgen, so wird uns häufig gesagt, wird es keinen Platz mehr für wenig oder nicht qualifizierte ArbeiterInnen geben.

Eine genaue Analyse der statistischen Daten zur Beschäftigung zeigt jedoch, dass diese Sicht völlig falsch ist. In Wirklichkeit ist der Arbeitsmarkt eher polarisiert. Zwar ist die Nachfrage nach hochqualifizierten Berufen von IngenieurInnen, ForscherInnen, ÄrztInnen und spezialisierten TechnikerInnen sehr hoch. Im Gegensatz dazu brechen die qualifizierten Arbeitsplätze (insbesondere die von FacharbeiterInnen) ein, während die wenig oder gar nicht qualifizierten Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor und anderen „Elementaraufgaben“ rasch zunehmen. Nach Angaben des Europäischen Zentrum für die Förderung der Berufsbildung (CEDEFOP) sind heute bereits 10% dieser Grundarbeitsplätze von hochqualifizierten und mehr als 45% von qualifizierten Arbeitskräften besetzt. Das bedeutet, dass es bereits eine Überqualifizierungsquote von über 55% bei diesen Aufgaben gibt, die von vornherein von jedermann besetzt werden könnten. Nach Schätzungen des CEDEFOP wird sich diese Quote bis 2020 auf 70% erhöhen. [2]

Diese Polarisierung der Qualifikationen ergibt sich aus dem Zusammentreffen zweier Faktoren. Auf der einen Seite treibt die soziale Unsicherheit die ArbeiterInnen, auch qualifizierte, dazu, unterbezahlte Jobs anzunehmen, diese sogenannten „Hamburger Jobs“. Andererseits führt die technologische Entwicklung zwar zu einer starken Nachfrage nach ExpertInnen, IngenieurInnen und TechnikerInnen auf hohem Niveau, aber sie neigt auch dazu, durchschnittlich qualifizierte Arbeitsplätze zu zerstören: diejenigen, deren Beherrschung heute relativ leicht in formale Algorithmen übersetzt werden kann und die durch Maschinen ausführbar sind. Arbeitsplätze für gering oder unqualifiziertes Personal, vor allem im Dienstleistungssektor, erfordern jedoch häufig immer noch den Einsatz eines Menschen und seines „gesunden Menschenverstandes“, weil zum Beispiel die Vielfalt der Situationen, denen man begegnen kann, zu schwierig (und zu teuer) ist, um sie in einem Computercode vorwegzunehmen.

Wie dem auch sei, ist es natürlich wirtschaftlich nicht rentabel, eine „Demokratisierung des Bildungswesens“ voranzutreiben, in dem Sinne, wie es die progressiven Pädagogen in den 60er oder 70er Jahren verstanden: dass jeder das Maximum seiner Fähigkeiten, unabhängig von seiner sozialen Herkunft, erreichen sollte. Denn wenn man davon ausginge, dass die wohlhabenderen Schichten nicht „selbstverständlich“ über höhere intellektuelle Fähigkeiten verfügen als andere, würde das bedeuten, dass 80% der Bevölkerung AkademikerInnen sind. Dies veranlasst den französischen Bildungsminister Blanquer, den „destruktiven egalitaristischen Diskurs“ abzulehnen. Und die OECD daran zu erinnern, dass…

„Nicht alle werden eine Karriere im dynamischen Sektor der „neuen Wirtschaft“ antreten. In der Tat werden es die meisten nicht tun, sodass die Lehrpläne nicht so gestaltet werden können, als müssten alle weit gehen.“ [3]

Aber wie sollen diese Lehrpläne aussehen? Was müssen wir Kindern beibringen, die bis zum Alter von 13, 14 oder sogar 16 Jahren zusammen zur Schule gehen, aber von denen einige an der Entwicklung von Systemen der künstlichen Intelligenz arbeiten werden, während die anderen Automaten mit Coca-Cola-Dosen füllen werden?

Unvorhersehbarkeit, Flexibilität, Kompetenzen

Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der Berücksichtigung eines anderen Aspekts der Entwicklung des Arbeitsmarktes: seine Unvorhersehbarkeit, die mit der Unsicherheit der Arbeitsplätze und (beide sind verbunden) mit dem Tempo der Marktinnovation und der technischen Produktionsverhältnisse verbunden sind.

„Junge Menschen, die heute in den Arbeitsmarkt einsteigen, werden im Laufe ihrer beruflichen Laufbahn mehrmals den Arbeitgeber oder sogar ihren Beruf wechseln müssen. Um auf den heutigen Arbeitsmarkt vorbereitet zu sein, muss man unter diesen Umständen, in der Lage sein, Unsicherheit und Veränderung auszuhalten.“ [4]

Die Sekundarschule und – in geringerem Masse – die Hochschulbildung sind zu einem Massenunterricht geworden. Es war eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Aber dieser Unterricht muss sich jetzt ändern: Er muss die Inhalte, die er den Eliten vorbehielt, aufgeben und sich auf das konzentrieren, was die Arbeitsmärkte jetzt fordern: Anpassungsfähigkeit, Flexibilität, kurz: Kompetenzen. Andreas Schleicher, der Chef der PISA-Umfragen in der OECD, meint:

„Die Schulsysteme sind nach wie vor das Produkt der industriellen Ära, ausgerichtet auf Standardisierung und Konformität. Das Tempo des Wandels in der modernen Gesellschaft verlangt (…) weniger Fakten und mehr Kompetenzen, um Kenntnisse in ganz neuen Situationen anwenden zu können: man wechselt vom Auswendiglernen zum Erarbeiten.“ [5]

Lassen Sie uns die neue Bedeutung des Wortes „Kompetenz“ beachten. Es handelt sich nicht mehr um eine Reihe von Wissen, Know-how, Eignungen, … welche die Fähigkeit gewährleisten, bestimmte Aufgaben in einem gegebenen beruflichen Umfeld zu erfüllen. Es geht jetzt um die Fähigkeit, in einer noch nie dagewesenen Situation möglicherweise völlig neues Wissen zu mobilisieren. Im Übrigen wird Wissen zu vulgären „Fakten“ degradiert, die ihre Komplexität und ihre notwendige Konzeptualisierung leugnen. Aber wer braucht schon Komplexität und Abstraktion, wenn es nur darum geht, wirksam zu sein? Es geht nicht darum, zu verstehen, was elektrische Spannung ist, sondern ein Voltmeter richtig zu benutzen. Genau dieser wirtschaftlichen Nachfrage entspricht die Pseudopädagogik mit ihrem „Kompetenzansatz“. Laut seinen Verteidigern,

„Die Stoff-Inhalte werden nicht mehr als Selbstzweck betrachtet, sondern als Ressource (…) um Fähigkeiten zu entwickeln. Die Aufgabe des Lehrers besteht nicht mehr darin, Fachwissen zu vermitteln, sondern Lernsequenzen zu entwerfen und zu verwalten, in denen die Lernenden mit neuen Situationen konfrontiert sind, die sie dazu bringen, die notwendigen Informationen zu suchen und zu verarbeiten, um diese Situationen angemessen zu bewältigen.“ [6]

Während in einigen Ländern die Kompetenzorientierung als „pädagogische Innovation“ und manchmal sogar als Erbe der konstruktivistischen Pädagogik (Freinet, Decroly, …) dargestellt wurde, stellt die OECD die Dinge wieder ins Lot:

„Aus welchen Gründen stehen diese Fähigkeiten jetzt im Vordergrund? Dies liegt daran, dass die ArbeitgeberInnen darin wichtige Faktoren für Dynamik und Flexibilität erkannt haben. Eine mit diesen Fähigkeiten ausgestattete Arbeitskraft ist in der Lage, sich ständig an die Nachfrage und an die sich ständig verändernden Produktionsmittel anzupassen.“ [7]

Was die vorrangigen Bereiche betrifft, in denen diese Kompetenzen entwickelt werden müssen und die damit verbundenen wenigen Kenntnisse, werden durch den besonderen Charakter der neuen Arbeitsplätze bestimmt, die sich jetzt entwickeln. Die ungelernten ArbeiterInnen des 21. Jahrhunderts hat nichts mehr gemeinsam mit den HilfsarbeiterInnen, den BauarbeiterInnen oder den LandarbeiterInnen vor einigen Jahrzehnten. Sie sind jetzt VerkäuferInnen, KassiererInnen, Büroangestellte, Sicherheitsbeamte, KellnerInnen oder RezeptionistInnen. Man erwartet von ihnen, dass sie lesen, schreiben, zählen, aber auch Daten kodieren und über das Internet kommunizieren können, sich mit einigen Vorstellungen von Wissenschaft und Technik zurechtfinden können, Initiative und Unternehmergeist zeigen, über beziehungs- und interkulturelle Fähigkeiten verfügen usw. Das sind die so genannten „Kernkompetenzen“, die von der OECD und der Europäischen Kommission festgelegt wurden. Sie müssen „zum Kern dessen werden, womit Schulen und Lehrer sich zu beschäftigen haben,“ sagt die OECD. [8]

„Die Schulen müssen sich darauf beschränken, den SchülerInnen die Grundlagen zu vermitteln, die es ihnen ermöglichen, ihr Wissen in den Bereichen, die sie interessieren, selbst zu entwickeln. – Es ist in der Tat unmöglich, ihnen „alles“ in einer Welt zu unterrichten, in der die Summe der Kenntnisse und der Informationen exponentiell zunimmt.“ [9]

Alles andere ist überflüssig. Es wird im höheren Sekundarschulbereich oder an der Universität für diejenigen reserviert sein, deren Beruf es verlangt. Was die Allgemeinbildung betrifft, werden sich die sozialen Eliten diese in ihrem familiären Umfeld selbst aneignen.

Deregulierung, Wettbewerb, Bewertung

Es gibt noch eine letzte Frage, die uns schliesslich zum Gegenstand dieses Kolloquiums führen wird: die Bewertung. Denn wie werden wir das alles realisieren? Wie kann man dieses „alte“ Schulsystem, „Produkt des industriellen Zeitalters“, in diese moderne Maschine verwandeln, die flexible Arbeiter und Konsumenten hervorbringt? Die Antwort kommt einmal mehr von den beauftragten Ökonomen der OECD:

„Politische Massnahmen, die den Wettbewerb, die freie Wahl und die Marktkräfte in das Schulsystem einführen, haben gezeigt, dass sie ein grosses Potenzial haben, die Schulsysteme zu einem höheren Leistungsniveau zu entwickeln.“ [10]

Das System muss also dereguliert werden, es muss für den Wettbewerb geöffnet werden, wobei man sich sagen muss, dass der Druck der Eltern zwangsläufig in die Richtung einer wirtschaftlichen Instrumentalisierung der Schule gehen wird, da sie hoffen, dass diese die Chancen ihrer Kinder auf dem Arbeitsmarkt maximiert. Dass eine solche Liberalisierung des Schulmarktes notwendigerweise mit einer Zunahme der Segregation und damit der sozialen Ungleichheit in der Schule einhergeht – wie es Schweden und Finnland derzeit erleben – scheint für die führenden Politiker der Weltwirtschaft nicht wirklich ein Problem zu sein.

Und schliesslich, wo die regulierende Rolle des Staates verschwindet oder geschwächt wird, muss diese „dirigistische“ Lenkung durch eine „Ergebnissteuerung“ ersetzt werden, wodurch das System einer ständigen Bewertung und einem Wettbewerb unterworfen werden muss. Man muss die SchülerInnen bewerten, die LehrerInnen bewerten, die Schulen bewerten, die Bildungssysteme bewerten… Und das muss man nach den Kriterien des Dogmas der Kompetenzen tun. Das trifft sich sehr gut, denn gerade die Kompetenzen eignen sich viel besser für eine standardisierte Bewertung als beispielsweise das Verständnis komplexer Begriffe, die Formalisierung, die Konzeptualisierung, das Schreiben von Texten, das künstlerische Schaffen, das wissenschaftliche Denken usw.

Diese Schule unterrichtet die Bürger nicht mehr, sie lehrt nicht, die Welt zu verstehen, sondern sich anzupassen, ohne zu widerstehen. Sie bereitet auch auf einen Arbeitsmarkt vor, auf dem der Einzelne allein ist. Allein angesichts seiner Ausbildungsentscheidungen, allein auf der Suche nach einem Einkommen, allein in dem ungleichen Dialog, der ihn mit einem Arbeitgeber verbinden wird. Der Europäische Rat sagt: „Wir müssen die europäischen Bürger darauf vorbereiten, motivierte und autonome Lernende zu sein (…) die in der Lage sind, die Erfordernisse eines prekären Arbeitsmarkts zu interpretieren, auf dem die Beschäftigung nicht mehr ein ganzes Leben lang andauert.“ Sie müssen „ihre Ausbildung in die Hand nehmen, um ihre Fähigkeiten auf dem neuesten Stand zu halten und ihren Wert auf dem Arbeitsmarkt zu erhalten.“ [11]

Epilog

Die Frage, inwieweit all diese Entwicklungen wünschenswert oder kritikwürdig sind, ist nicht pädagogischer oder psychologischer Natur. Es ist nicht einmal eine Frage der Ökonomie oder der Soziologie. Es ist ganz einfach eine Frage der politischen Entscheidung: sich mit dem Kapitalismus abzufinden oder ihn zu bekämpfen. Im ersten Fall ist die derzeitige Entwicklung des Unterrichtswesens vollkommen legitim. Sie bringt BürgerInnen, KonsumentInnen und ArbeiterInnen hervor, die so gut wie möglich an die Entwicklungen angepasst sind, die der vorherrschende Einsatz der neuen Technologien heute erfordert. Wenn man jedoch glaubt, dass diese Welt bekämpft werden muss, wenn man glaubt, dass die gewaltigen Fortschritte der Informations-, Kommunikations-, künstlichen Intelligenz- oder BiotechnikerInnen genutzt werden können und müssen, um eine begründete, kontrollierte Wirtschaft zu entwickeln, die auf die Grundbedürfnisse der Menschheit und den Schutz ihres Planeten ausgerichtet ist, dann brauchen wir eine andere Schule. Eine Schule, die allen, vor allem den Ausgegrenzten, den Ausgebeuteten, den Unterdrückten, den Arbeitslosen, den Obdachlosen, den Heimatlosen… das Wissen und die Fähigkeiten vermittelt, die sie als Waffen für die Eroberung einer anderen Welt verwenden können.

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  1. Europäischer Rat (2010). Mitteilung von Brügge über die verstärkte europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Schulwesens und der beruflichen Ausbildung.
  2. CEDEFOP (2016). Zukünftiger Qualifikationsbedarf in Europa: kritische Arbeitskraft Trends.
  3. OECD (2001), Welche Zukunft für unsere Schulen ?
  4. OECD (2011). Strategie zugunsten der Kompetenzen.
  5. Schleicher, A. (2018). Weltklasse. Wie errichtet man ein Schulsystem des 21. Jahrhunderts.
  6. Parmentier, P., und Paquay, L. (2002). Inwiefern fördern Situationen des Unterrichts und der Berufsbildung den Aufbau von Kompetenzen?
  7. Pont, B. & Werquin, P. (2001). Neue Kompetenzen: Wirklich? Der Beobachter der OECD.
  8. Ananiadou, K., und Claro, M. (2009). Fähigkeiten und Kompetenzen des 21. Jahrhunderts für Lernende im neuen Jahrtausend in OECD-Ländern. Die OECD-Arbeitspapiere für das Bildungswesen.
  9. Eurydice (2010). Neue Kompetenzen für neue Arbeitsplätze. Politische Initiativen im Bildungswesen: Kurze Übersicht der aktuellen Situation in Europa.
  10. Woessmann L. und Schuetz G. (2006), Wirksamkeit und Gerechtigkeit in europäischen Systemen der allgemeinen und beruflichen Bildung
  11. Europäischer Rat (2012). Förderung des Unterrichtswesens und der beruflichen Ausbildung in Europa: DMitteilung aus Brügge.
Nico Hirtt est physicien de formation et a fait carrière comme professeur de mathématique et de physique. En 1995, il fut l'un des fondateurs de l'Aped, il a aussi été rédacteur en chef de la revue trimestrielle L'école démocratique. Il est actuellement chargé d'étude pour l'Aped. Il est l'auteur de nombreux articles et ouvrages sur l'école.